Aphasie: Interview mit einer Betroffenen

Im März 2019 fanden die Würzburger Aphaise-Tage statt. Das Besondere dieser Veranstaltung ist die einzigartige Mischung aus Betroffenen, Angehörigen, Ärzten und Therapeuten, die in Workshops, Gesprächen und Vorträgen über das Krankheitsbild „Aphasie“ aufklären. So war auch die Fragerunde „Aphasie = Freud, Feind, Wut, Verzweiflung” sehr interessant. Professor Dr. Andreas Winnecken, Dekan der Fakultät für Gesundheit und Sozialwissenschaften Berlin, befragte die von Aphasie betroffene Ulrike Steinhöfel. Diese war in „ihrem früheren Leben“ Fachärztin für Allgemeinmedizin, als sie vor über 20 Jahren aus heiterem Himmel einen Schlaganfall erlitt – seitdem ist sie Aphasikerin:

Wie hast Du die Welt wahrgenommen, als Du aus dem künstlichen Koma aufgewacht bist?
Unwirklich. Ich war so müde. Ich habe mich gar nicht so wahrgenommen. Ich war auf der Intensivstation. Eine Körperseite war gelähmt. Ich habe meinen Arm und mein Bein nicht mehr gespürt. Die Sprache war weg. Man hat mir meine Schädeldecke herausgenommen und auf Eis gelegt. Ich war so total platt.

Hast Du realisiert, was mit Dir passiert ist?
Nein, ich war komplett neben der Spur. Ich habe Wut gespürt, konnte aber nicht antworten. Ich habe nur gedacht, ich liege da und werde wohl immer die Decke anstarren.

Du warst früher ein sehr aktiver Mensch. Wann hast Du zum ersten Mal Verzweiflung gespürt?
Bei der Reha habe ich gedacht, es wird nichts mehr kommen. Ich konnte nicht antworten. Da hatte ich eine unheimliche Wut und Verzweiflung gespürt.

Du hast Dich selbst nicht wieder erkannt. Du hast Verzweiflung gespürt. Oder gar nichts gespürt? Hat Deine Umwelt Deine Verzweiflung wahrgenommen?
Zuerst nicht. Erst später. Es ist so schrecklich, dies zu erklären…
Meine Familie hat mich besucht. Die waren alle verzweifelt. Meine Freunde haben mich getragen.
Ich dachte, ich muss aus meinen Korsett heraus, da ich sonst platzen würde. Ich hatte sowohl in der Klinik als auch in der Reha starke Depressionen.

Es ist interessant zu hören, dass Deine Familie verzweifelt war und Du gedacht hast, Du musst Deine Familie schützen und der Freundeskreis Dir sehr viel näher stand und Dich in die Veränderung begleitet hat. Was hättest Du Dir von Deiner Umwelt gewünscht?
Ich glaube, ich hätte mir Empathie gewünscht. Die Hälfte hat mir auch die Empathie gebracht, die andere Hälfte nicht. Die haben das nicht verstanden. Die haben auch nicht verstanden, was Aphasie bedeutet, nämlich Lesen, Schreiben und die Sprache ist weg.

Es ist auch ein Phänomen, dass zum Beispiel Demenz in aller Munde ist, aber dass die Gesellschaft nichts von Aphasie weiß. Wann setzte zum ersten Mal Wut ein?
Ich habe in der Reha große Wut gespürt, da ich nicht mehr reden konnte. Ich konnte nur drei Sachen sagen, nämlich „Mamamamamama“, „Guten Appetit“ und „Scheiße, scheiße, scheiße“.

Wie bist Du mit der Wut umgegangen?
Ich habe erstmal eine Psychologin gesucht und gefunden.

Wann hast Du wieder positive Energien in Dir gespürt?
Ich habe eine neue Wohnung bezogen und viele Therapien gemacht. Im Inneren habe ich gespürt, dass ich langsam immer besser und besser werde. Früher habe ich abgehackt gesprochen, aber jetzt kann ich mich ein wenig ausdrücken.

Du konntest aber Fragen nicht beantworten. Konntest Du Gefühle ausdrücken?
Ich habe damals die Sprache nicht gekonnt. Nur wenige haben mich überhaupt verstanden. Ich habe immer versucht mit Händen und Füßen zurecht zu kommen.

Du warst ein sehr kommunikativer Mensch gewesen. War die Aphasie Dein Feind?
Erstmals ja, ich habe erst peu à peu realisiert, das ich mich entwickeln muss.

Wann konntest Du die Aphasie akzeptieren beziehungsweise Dich damit arrangieren?
Ich habe mich bei der Reha weiterentwickelt. Die Reha war sehr, sehr anstrengend, aber es war gut. Ich bin raus, zum Beispiel in die Innenstadt. Da habe ich mich wiedererkannt. Ich bin ein Mensch. Davor habe ich viel Alkohol getrunken, ganz viel Alkohol. Das ist jetzt aber vorbei.

Konntest Du Deine Freunde halten?
Ich habe einen Salsa-Kurs angefangen. Ich habe nach dem Ereignis langsam das Leben wieder gespürt. Ich bin ausgegangen. Bin zum Einkaufen gegangen, bin Fahrrad gefahren.

Was würdest Du Mitbetroffenen raten?
Nicht aufzugeben. Rauszugehen, nicht nur in der Wohnung zu bleiben und fernsehen. Mit Freunden reden. Zu Verreisen. Das mache ich gerne und sehr oft und ganz ganz wichtig: nicht zu verzweifeln.

Nach wieviel Jahren des absoluten Verzweifelns hast Du erkannt, dass es in eine andere Richtung weitergeht?
Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber es können auch noch nach drei bis vier Jahren Fortschritte in der Therapie erzielt werden. Ich habe zum Beispiel erst viel später nach dem Schlaganfall noch eine weitere Therapie zum Lesen und Schreiben gemacht und es ist besser und besser geworden.

Professor Dr. Winnecken weist auf eine aktuelle Studie von Caterina Breitenstein (Münster) und Annette Baumgärtner (Lübeck), hin, dass auch noch gute Sprach-Fortschritte nach Jahren des Ereignisses zu erzielen sind.

Autor: Ulrich Jaeger

 

 

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