Ein Schädelhirntrauma verändert alles

Carola und Dietrich machen das Beste daraus

Carola und Dietrich Mandler (56 und 60) begegneten sich als junge Menschen im Jahr 1986. Beide lebten im hessischen Gießen, woher sie und ihre Familien auch stammten. Sie verliebten sich ineinander, wurden aber damals noch kein Paar, denn beide befanden sich in anderen Beziehungen. Dietrich befand sich vor dem Absprung aus der Provinz in die Hauptstadt. Ihn zog es nach Berlin. Beruflich qualifizierte Dietrich sich im Bereich der Elektronik, zunächst im Rahmen einer Ausbildung, später bildete er sich weiter, studierte und wurde Elektroingenieur. Carola strebte ursprünglich einen Abschluss als Sonderschullehrerin – heute heißt der Beruf Förderschullehrerin – an. Obwohl sie diese Ausbildung nicht vollendete, sollte sie später von dem, was sie dabei lernte, im privaten Bereich sehr profitieren. Carola sattelte um und wurde Fremdsprachsekretärin für Englisch und Französisch.

Verloren und wiedergefunden

Für beinahe zwei Jahrzehnte verloren sich Carola und Dietrich aus den Augen. Beide gründeten Familien, Carola wurde Mutter einer Tochter, Dietrich wurde Vater zweier Söhne, die nach der Trennung des Elternpaars bei ihm aufwuchsen. Erst im Jahr 2005 trafen Carola und Dietrich sich wieder – im Internet auf der Webseite „StayFriends“. Sie schrieben sich, tauschten sich regelmäßig aus, Carola von Gießen, Dietrich von Berlin aus. Dieses Mal wurden sie ein Paar und blieben es auch. Gemeinsam mit ihren Kindern im Jugendalter – Carolas Tochter war damals 14, Dietrichs Söhne 13 und 17 – gründeten sie einen gemeinsamen Haushalt und führten für mehrere Jahre ein Familienleben. Als die Kinder ausgezogen waren, genossen die Beiden auch die Zweisamkeit als Paar. Die zahlreichen gemeinsamen Hobbies verbanden sie zusätzlich. Sie wanderten gerne mit ihren Hunden, fuhren jedes Jahr mindestens 10.000 Kilometer mit ihren Fahrrädern, liebten Sport und und freuten sich auf ihre jährlichen Urlaubsreisen. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie durch Berufstätigkeit. Carola war als Sekretärin am Institut Mathematik der Uni Gießen angestellt, Dietrich pendelte täglich als Ingenieur zwischen Gießen und Frankfurt/Main. So hätte das Leben weitergehen können.

Ein Stau

An einem scheinbar völlig alltäglichen Morgen im November 2016 frühstückten sie noch gemeinsam. Anschließend begann der Teil des Tages, den sie getrennt verbrachten. Carola schaltete das Radio an, um die Nachrichten zu hören. Sie wusste, dass Dietrich im Auto lieber Musik hörte und dass ihn die Verkehrsnachrichten nicht erreichten. Als sie mitbekam, dass sich am Gambacher Kreuz ein langer Stau gebildet hatte, versuchte sie, ihn zu warnen: Fahr nicht auf die A5, bleib auf der A45. Hat er es noch gehört? Normalerweise erreichte Carola Dietrich über den Lautsprecher seines Handys auch im Auto. Dieses Mal reagierte er nicht.

Das Institut Mathematik der Uni, in dem sich Carolas Büro befindet, liegt nicht weit entfernt von der Klinik. Es gehört zum Alltag, dass Rettungshubschrauber über ihrem Büro rotieren. Sie dachte sich nichts dabei, schon gar nicht an die Möglichkeit, dass ihr Lebensgefährte in diesem Hubschrauber liegen könnte. Der Anblick oder die Geräusche eines Hubschraubers lösen jetzt schmerzhafte Erinnerungen an das damalige Geschehen aus, ist in ihrem Gehirn mit den traumatischen Erlebnissen verknüpft. Bis jetzt steigt die Erinnerung bei dem Anblick eines Hubschraubers sofort wieder hoch.

Der Unfall

Carola ist es sehr wichtig, zu betonen, dass Dietrich keinerlei Schuld an diesem Unfall trug. Er erkannte das Ende des Staus rechtzeitig, blieb dahinterstehen und schaltete die Warnanlage an. Leider war der Fahrer eines Kleintransporters hinter ihm nicht so aufmerksam. Er stieß von hinten völlig ungebremst auf Dietrichs Fahrzeug und schob es unter den LKW vor ihm. Was hatte den Fahrer des Kleintransporters so sehr abgelenkt? Suchte er vielleicht – so Carolas Verdacht – gerade sein herabgefallenes Handy auf dem Boden? Sie wird es nie erfahren. Ein großer Teil von Dietrichs PKW wurde zwischen den beiden größeren Fahrzeugen zusammengeschoben. Vorne war die Frontscheibe zersplittert, der Kofferraum hinten existierte nicht mehr. Dazwischen saß Dietrich. Er wurde eingeklemmt und schwer verletzt. Dem Unfallverursacher war körperlich wenig passiert. Carola berichtet aber, sie habe gehört, psychisch gehe es ihm auch nicht gut. Er habe Psychotherapie in Anspruch genommen – möglicherweise bis jetzt. Persönlich sind Carola und Dietrich dem Mann nie begegnet. Sie kommunizierten nur brieflich miteinander, hauptsächlich über die Anwälte.

Carola erfuhr, was geschehen war, von der Polizei, die bei ihr zu Hause klingelte und Carolas Mutter antraf. Diese wiederum informierte ihre Tochter Carola. Natürlich hielt diese nichts mehr am Arbeitsplatz. Sie wollte wissen, wie es Dietrich ging. Sie durfte nicht zu ihm, er war nicht bei Bewusstsein, er wurde operiert. Mit dem Personal der Akutklinik konnte Carola zeitnahe sprechen. Der Arzt machte ihr wenig Hoffnung. Er wagte keine Prognose. Es war unklar, ob Dietrich überleben würde. Klar war auf jeden Fall, dass ein Überleben drastische Einschnitte bedeuten würde. Der Arzt regte an, dass Carola als gesetzliche Betreuerin eingesetzt würde. Ihre Unterschrift wurde unter diversen Dokumenten benötigt. Eine Krankenpflegerin gab Carola eine Plastiktüte mit Dietrichs Sachen. Darin waren seine blutigen zerschnittene Kleidungsstücke, sein Handy, sein Schlüsselbund und blutige Scherben aus der Frontscheibe seines Autos. Dietrich hatte sich den Kopf an mehreren Stellen schwer verletzt. Es gab größere und kleinere Blutungen an verschiedenen Orten, nicht alle waren, wie man später feststellte, operabel. Mehr konnte Carola in der Klinik nicht erfahren, sie könne aber am Nachmittag in der Intensivstation anrufen, dann würde sie vielleicht schon mehr erfahren.

Telefonate

An wen konnte sich Carola mit den vielen Eindrücken, verbunden mit Angst, Zukunftssorgen und Fragen wenden? Was konnte und musste sie nun machen? Sie telefonierte. Ihre Tochter legte an diesem Tag gerade ihre Prüfung zur Bankkauffrau ab. Dietrichs Kolleginnen und Kollegen waren besser informiert als Carola selbst. Einer seiner Kollegen hatte denselben Weg zur Arbeit und kam an der Unfallstelle vorbei. Er hatte die Reste von Dietrichs Auto gesehen. An Dietrichs Abteilung in der Deutschen Bundesbank, wo er als Mitarbeiter beschäftigt war, hatte sich die Nachricht natürlich verbreitet wie

ein Lauffeuer. Man erkundigte sich am Rande des Telefonats auch nach dem Verbleib von Dietrichs Schlüssel, den sie zeitnahe bei ihr abholen wollten. Die Polizei von Butzbach bestätigte Carola, dass Dietrich keine Schuld, auch keine Teilschuld, am Unfall traf. Er hatte alles richtig gemacht. Sie erfuhr auch, dass die Hinterachse seines PKW komplett gebrochen war. Sie gewann eine Vorstellung davon, wie unglaublich stark der Aufprall gewesen sein muss, denn eine solche Achse war einem später beauftragten Gutachter bis dahin nicht bekannt. Von seiner damaligen Hausärztin trennte sich Carola. Sie sagte, sie könne ihre Patientin nur für den Unfallstag krankschreiben. Sie sah keinen Grund, dies zu verlängern. Am Arbeitsplatz war man verständnisvoller. Dort hatte man kein Problem, Carola für sechs Monate freizustellen.

Als Carola am Nachmittag bei der Intensivstation eintraf, erfuhr sie, dass Dietrich schon im künstlichen Koma lag und dass er beatmet wurde. Seine linke Gesichtsseite war völlig zertrümmert, eine plastische Operation war erforderlich. Dietrich erhielt später ein Gesichtsimplantat. Das linke Auge funktionierte zunächst noch. Leider wurde Dietrichs Auge wegen einer Lähmung des Lids später in einer anderen Klinik nicht hinreichend befeuchtet, so dass es austrocknete. Man konnte es nur noch zunähen.

Koma und Rückkehr

Eine gesetzliche Betreuung bleibt bis heute erforderlich. Carola waren die Aufträge einer solchen Betreuung unbekannt. Weder privat noch dienstlich war sie damit nicht vertraut. Nach drei Wochen Koma wurde versucht, Dietrich aufzuwecken. Sie war darauf vorbereitet, dass Dietrich nicht einfach wach werden würde, so wie früher. Er würde für lange Zeit, wahrscheinlich für immer, eine Person benötigen, die ihn versorgt und die die Verantwortung übernimmt. Als die Komamedikation nach drei Wochen reduziert und später abgesetzt wurde, schlief er zunächst weiter. Es bestand die Sorge, dass er nahtlos in ein Wachkoma gleiten würde. Carola versuchte, ihn mit Musik, die er so sehr liebte, zu beruhigen. Sie setzte ihm einen Kopfhörer auf, mit dem er, so hoffte sie, gut hören würde. Sie berührte ihn und sprach auch mit ihm. Sie drückte sanft seine Hand und fragte ihn, ob er bemerkt, dass sie bei ihm sei. Wenn ja, dann drücke meine Hand, sagte sie. Er tat es!

Als er das erste Mal sprechen konnte, sprudelte es aus seinem Mund hinaus. Ein Tubus hinderte ihn physiologisch am Sprechen. Als ihm zum ersten Mal ein Sprechaufsatz aufgesetzt wurde, redete er ohne Pause. Er konnte nicht gut sprechen, und das meiste war nicht verständlich. Wichtig war aber, zu sehen, wie stark sein Mitteilungsbedürfnis war, und dass ein gewisses Potenzial vorhanden war.

Kliniken

Dietrich verbrachte etwa ein Jahr, von November 2016 bis Oktober 2017 in Kliniken. Auf der Intensivstation, wo Dietrich sechs Wochen lang verblieb, wurden die Diagnosen ermittelt. Die wichtigsten lauteten Schädelhirntrauma 3. Grades, Parese, Aphasie, Dysphasie, Epilepsie. Dietrich wurde in andere Spezialkliniken, die auf dem Bereich der Neurologie als besonders kompetent gelten, verlegt. Von Januar bis Mai 2017 wurde er in Allensbach am Bodensee behandelt, anschließend in Bad

Zwesten.  Während des Aufenthalts im 410-Kilometer entfernten Allensbach begleitete Carola ihren Lebenspartner. Sie hätte auch die Möglichkeit gehabt, einen größeren Teil des Tages in der Klinik zu verbringen. Andere Partnerinnen oder Partner nutzten dies. Carola hatte sich lieber ein Zimmer genommen, wo sie gemeinsam mit den beiden Hunden des Paars wohnte. Ihr war wichtig, so viel wie möglich von ihrem gemeinsamen Zuhause mitzunehmen, nicht zuletzt, um für Dietrich so viel wie möglich Bindung aufrecht zu erhalten. Dazu gehörten auch die Hunde. Als Dietrich schließlich das letzte Halbjahr in der Klinik in Bad Zwesten verbrachte, konnte Carola wieder ihrem Beruf nachgehen. Die täglichen Fahrten von Gießen nach Bad Zwesten, 80 Kilometer, nahm sie auf sich.

Anschlusstherapien

Auch nach der Rückkehr in die eigene Wohnung wurden natürlich Therapien erforderlich. Sowohl im körperlichen wie auch im kognitiven Bereich wird Dietrich gefördert. Fortschritte sind immer noch deutlich erkennbar. Darüber hinaus musste auch die Wohnung umgebaut werden. Dietrich erhält Logopädie, Physio-, Ergo-, Reit-, und Musiktherapie sowie Fuß- und Craniomassage. Natürlich übernimmt die Berufsgenossenschaft nur einen Teil. Sie mussten einen großen Teil privat finanzieren. Da Dietrich zeitlich und örtlich nicht immer orientiert ist, fallen zuweilen auch die Termine aus. Zwar wird Dietrich immer auf die anstehenden Stunden vorbereitet, es kann aber passieren, dass er es sich anders überlegt. Er ist nicht in der Lage, rechtzeitig zu sagen, entschuldige, heute möchte ich nicht dorthin gehen, aus diesen oder jenen Gründen. Er teilt es Carola mit, indem er einfach nicht aus dem Auto steigt. Wenn er im Gespräch äußern möchte, dass er etwas nicht möchte, wirft er seinen Oberkörper nach vorne und stößt einen verärgerten Ton aus. Behandlungen beim Zahnarzt sind nur mit Vollnarkose möglich. Carola ist bestrebt, Dietrichs Erinnerungen lebendig zu halten. So baute sie ihm eine Eisenbahn, die der seiner Kindheit ähnelt.

Die Wohnungseinrichtung musste auf Dietrichs Bedürfnisse abgestimmt werden. Um sich bewegen zu können, braucht er viel Platz. Das eine oder andere wirft er auch schon mal um. Seine Bewegungen kann er nicht besonders geschickt ausführen. Schritt für Schritt hangelt er sich vorwärts. Ein Zimmer wurde in ein privates Fitnessstudio umgebaut. Auch die Hobbies mussten verändert werden. Um weiterhin Fahrrad zu fahren, ließ Carola ein Paralleltandem bauen. Carola fährt für beide, Dietrich sitzt auf dem Beifahrersitz. Im Auto ist eine dritte Person erforderlich. Wenn Dietrich etwas nicht passt, kann er nicht so lange warten, bis Carola anhalten kann.

Carola und Dietrich sind schon immer gerne in Urlaub gefahren, was sie sich trotz allem bis jetzt nicht wegnehmen lassen. Eine Reise mit dem Zug oder mit dem Flugzeug wäre sehr problematisch. Auch im Hotel würden sie sehr auffallen. Aus diesem Grund schafften sie sich einen Caravan an. Wer wäre die erforderliche dritte Person? Wie im Alltag so auch im Urlaub muss eine weitere Person anwesend sein. Bei den Eheleuten Mandler gibt es eine 24-Stunden-Betreuung. Die Beschäftigten sind an einer Agentur angestellt und haben ihren 8-Stunden-Tag wie andere Menschen auch. Ihnen steht ein Apartment im Haus zur Verfügung. Dieses wird auch genutzt, weil der Lebensmittelpunkt des Betreuers im gesamten Bundesgebiet liegen kann. Eine Schicht dauert vierzehn Tage, anschließend findet ein Schichtwechsel statt. Der Wechsel ist für Dietrich immer sehr anstrengend. Die Arbeitszeit der Betreuer wird hauptsächlich während Carolas Dienstzeit benötigt. Leider bleiben die Betreuungspersonen meist nicht lange. Bei Dietrich und Carola arbeiteten in den letzten sieben Jahren nicht weniger als 43 Personen. Die Personen waren unterschiedlich kompetent. Dietrich verstand sich nicht mit allen. Einmal wurde er geschlagen. Einer der Betreuer entpuppte sich als Alkoholiker, ein anderer bestahl die Familie.

Die Hochzeit

Zum Zeitpunkt des Unfalls waren Carola und Dietrich noch verlobt, im Jahr 2019 heirateten sie. Carola nahm Dietrichs Namen an. Auch hier gab es eine Barriere, die zu überwinden galt. Um Dietrichs Ehefähigkeit festzustellen, musste ein Gutachten erstellt werden. Dietrichs Verlobungsring musste nach dem Unfall von seinem Finger geschnitten werden. Für die Hochzeit ließ Carola den Ring reparieren. Dietrichs Unterschrift, die er auch unter die Heiratsurkunde setzte, sieht genau so aus wie früher, dieser Schriftzug gehört zu seiner Routine. Alle anderen Wörter muss er Buchstabe für Buchstabe malen. Sie üben immer noch. Sein Wortschatz wächst. In einfachen Kreuzworträtseln findet er schon mehrere Wörter. Dietrich folgt seinem alten Motto: Nie aufgeben.