Intensivmedizin: Empfehlungen zur Entscheidung

Deutschlands Notfall- und Intensivmediziner bereiten sich auf die schwerste aller Entscheidungen vor: Welchen Patienten im Fall der Fälle intensivmedizinisch behandeln und welchen palliativmedizinisch versorgen, wenn die Intensivbetten und Ressourcen knapp werden? Noch ist es nicht so weit. „Aber sollten wir in die schwierige Situation kommen, zwischen Patienten entscheiden zu müssen, dann wollen wir gewappnet sein“, sagt Professor Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI) und Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. „Wir wollen am Ende dieses schwierigen, schmerzlichen Prozesses sagen können: Es war eine fundierte, gerechte Entscheidung.“

Sieben Fachgesellschaften legen deshalb heute gemeinsame klinisch-ethische Empfehlungen vor: Die Entscheidungen müssten medizinisch begründet sein. Und es müsse gerecht zugehen. Als Kriterium soll die klinische Erfolgsaussicht gelten, also die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die Intensivbehandlung überleben wird. So heißt es in den Handlungsempfehlungen: Die Priorisierungen erfolgen ausdrücklich nicht in der Absicht, Menschen oder Menschenleben zu bewerten, sondern aufgrund der Verpflichtung, mit den (begrenzten) Ressourcen möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung unter Krisenbedingungen zu ermöglichen. Zehn Tage hat die Gruppe von 14 Autoren, darunter Fachvertreter aus Notfall-und Intensivmedizin, Medizinethik, Recht und weiteren Disziplinen, an dem Paper geschrieben und dieses sorgfältig geprüft. „Ein großer Kraftakt, den ich so in meiner Laufbahn auch noch nie erlebt habe. Die Handlungsempfehlungen sind aus meiner Sicht ein hervorragendes Resultat, absolut praxistauglich“, so Janssens.

Es sei erschütternd gewesen zu sehen, unter welchem Druck Kollegen in anderen Ländern bereits Entscheidungen dieses Ausmaßes hätten fällen müssen, ohne irgendeine Orientierung zu haben, so Janssens, der nicht nur DIVI-Präsident, sondern auch Sprecher der DIVI-Sektion Ethik ist. „Die Kollegen in Italien und Spanien sind jetzt schon schwer traumatisiert. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Daher kann ein solcher Kriterienkatalog auf jeden Fall eine Stütze sein!“ Kriterium sei die klinische Erfolgsaussicht – nicht das Alter! „Wir haben uns ganz klar gegen das Kriterium „Alter“ entschieden und wollen sehr viel differenzierter vorgehen.“ Dabei spielten der Schweregrad der aktuellen Erkrankung sowie relevante Begleiterkrankungen (z. B. schwere vorbestehende Organdysfunktion mit prognostisch eingeschränkter Lebenserwartung) eine wesentliche Rolle. Der Patientenwille (aktueller, vorausverfügter, zuvor mündlich geäußerter oder mutmaßlicher Patientenwille) sei naturgemäß fester und mandatorischer Bestandteil bei allen Entscheidungen. Aus Gründen der Gleichberechtigung sieht das Paper zudem vor, dass eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen sollte, die eine Intensivbehandlung benötigen, unabhängig davon, wo sie gerade versorgt werden (Notaufnahme, Allgemeinstation, Intensivstation), und ganz gleich, ob COVID-19-Infizierter, Schlaganfall-Patient oder Unfallopfer.

Die vorliegende klinisch-ethische Empfehlung ist auf der Homepage der DIVI abrufbar. Die Autoren bitten ihre Kollegen explizit um Kommentare und eine lebhafte Diskussion, um die Inhalte der Empfehlung in einem offenen Diskurs weiterzuentwickeln. Auch könne sie so an an neue Erkenntnisse und die jeweils aktuelle Situation angepasst werden.

www.divi.de

 

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