Dr. Anouk Tosserams erhält den Otto-Löwenstein-Preis 2024 des BDH Bundesverband Rehabilitation. Mit ihrer weitreichenden Forschung zu Kompensationsstrategien für Gangstörungen bei Parkinson-Krankheit überzeugte die 30-jährige niederländische Ärztin der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Radboud die internationale Fachjury.
Professor Thomas Platz, BDH-Forschungsdirektor, hielt zur Preisübergabe in Wetzlar die Laudatio: „Die zielstrebigen Arbeiten von Dr. Tosserams setzen Maßstäbe in der Neurorehabilitation. Die diesjährige Preisträgerin verhilft mit ihrer umfassenden Forschung nicht nur zu einem viel tieferen Verständnis über individuelle Strategien von Parkinson-Patientinnen und -patienten im Umgang mit Gangstörungen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse flossen zugleich zeitnah in die therapeutische Ausbildung des niederländischen Parkinson-Netzwerkes und eine gezielte Edukation von Betroffenen ein. Mit der Initiative der dreisprachigen Internetplattform werden sie zukünftig weit über die Landesgrenzen der Niederlande Verbreitung finden können. Das ist ganz im Sinne des BDH-Forschungspreises für neurowissenschaftlichen Nachwuchs, der internationale Impulse für Fortschritte in der neurorehabilitativen Forschung setzt.“ Mit dem – mit 5.000 Euro dotierten – Otto-Löwenstein-Forschungspreis des BDH können junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Alter bis zu 40 Jahren für herausragende Arbeiten und Projekte aus dem Gebiet der Neurorehabilitation einschließlich der Neuropsychologie und Psychopathologie geehrt werden.
Dr. Anouk Tosserams begann sich im Jahr 2019 im Rahmen ihrer Doktorarbeit (Ph.D.) am Zentrum für Expertise für Parkinson und Bewegungsstörungen des Radboud Universitätsklinikums Nijmegen, wissenschaftlich mit den Problemen des Gehens bei Morbus Parkinson zu beschäftigen und engagiert sich bis heute in verschiedenen Projekten. Da sich Gehprobleme bei Parkinson durch den Einsatz von Medikamenten nicht vollständig beseitigen lassen, ist oftmals eine zusätzliche beübende Therapie erforderlich, zum Beispiel im Rahmen der Physiotherapie oder als Eigenübungsprogramm. Ein wichtiger Teil dieser Behandlung ist das Erlernen von Kompensationsstrategien. Beispiele dafür sind das Gehen im Takt eines Metronoms, seitliches Gehen, Bewegungsvorstellung oder Nachahmung der Bewegungen einer anderen Person. In einer aufwändigen Fragebogenstudie fand Dr. Tosserams heraus, dass betroffene Menschen regelmäßig kompensatorische Strategien anwenden, um ihren Gang zu verbessern. Dabei ist das Wissen über das gesamte Spektrum der verfügbaren Strategien jedoch sehr begrenzt. Menschen mit Morbus Parkinson berichteten auch, dass die Strategien im Allgemeinen sehr gut funktionieren, um das Gehen zu verbessern, aber dass die Wirksamkeit sehr stark von der Situation abhängt, in der sie sie anwenden, beispielsweise drinnen oder draußen. Schließlich fand die junge Wissenschaftlerin in einer Beobachtungsstudie mit 101 Morbus Parkinson-Patientinnen und –Patienten Belege dafür, dass die Strategien für alle nützlich zu sein scheinen, aber die Wirksamkeit einer bestimmten Strategie auch von Person zu Person sehr unterschiedlich ist. Das zeigten 3D-Bewegungsanalysen zum Vergleich der Gangvariabilität beim kontinuierlichen Gehen mit und ohne Anwendung verschiedener vordefinierter Kompensationsstrategien. In einer weiteren Beobachtungsstudie mit 18 Patientinnen und Patienten verglich Dr. Tosserams deren Gehirnaktivitäten beim kontinuierlichen Gehen auf dem Laufband bei drei vordefinierten Kompensationsstrategien. Sie fand heraus, dass je nach individueller Strategie unterschiedliche Wege und Areale aktiviert werden, und schlussfolgert: „Wir denken, dass beim Gehen mit Strategie bestimmte Umwege im Gehirn durch andere Hirnregionen genutzt werden, um den kürzesten Weg zum Bewegungszentrum zu umgehen, der sozusagen von der Krankheit betroffen ist. Interessanterweise scheint es im Gehirn mehrere Wege zu geben, um das Gehen zu kontrollieren. Dies könnte erklären, warum bestimmte Strategien für den einen funktionieren, für andere aber nicht.“ Diese Studie unterstreicht, so Tosserams weiter, wie unglaublich wichtig es ist, dass die Strategien wirklich individuell „maßgeschneidert“ sind.
Als Aufklärungsort und Inspirationsquelle konnte basierend auf diesen Forschungsergebnissen eine interaktive Online-Plattform über Kompensationsstrategien für Gehbehinderungen bei Parkinson entwickelt werden (www.gehenmitparkinson.de). Diese mit Videos illustrierte Plattform richtet sich an Menschen mit Morbus Parkinson, deren Angehörige sowie an Fachpersonal aus Medizin, Therapie und Pflege. Es sollen möglichst viele verschiedene Arten von Strategien vorgestellt werden, um letztlich zu den Strategien gelangen zu können, die am besten zur Person und ihrer Situation passen. Zugleich flossen die Studienergebnisse in ein Ausbildungsmodul ein. Es wurde inzwischen Standardbestandteil der jährlichen Grundausbildung für die Physio- und Ergotherapie, die innerhalb des ParkinsonNet-Netzwerks in den Niederlanden tätig sind.
Prof. Thomas Platz gratulierte der jungen Wissenschaftlerin, die als diesjährige Gewinnerin des Otto-Löwenstein-Preises unter Bewerbungen aus Deutschland, Griechenland, Kanada, Indien, Niederlande, Nigeria und den USA hervorgegangen ist. Anlässlich der Preisübergabe betonte er die Bedeutung des Engagements junger Forschender auf dem Gebiet der Neurorehabilitation und richtete sein Appell direkt an sie: „Wir brauchen Eure Forschung, forscht heute, damit zukünftig Menschen mit neurologisch bedingten Beeinträchtigungen eine möglichst gute Teilhabe erreichen können!“
Der Preis, der dem Andenken an den jüdischen Mediziner und Neuropsychiater Otto Löwenstein gewidmet ist, wurde zum dritten Mal ausgeschrieben. Der BDH übernimmt mit der Namensgebung öffentlich Mitverantwortung für nationalsozialistische Verbrechen an Otto Löwenstein, an denen eine seiner Vorgängerorganisationen beteiligt war. Zudem versteht der BDH sie als aktuellen Aufruf zu entschlossenem Widerstand gegen Willkür, Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus in unseren Tagen.
Foto: BDH-Forschungsdirektor Prof. Thomas Platz und Dr. Anouk Tosserams bei der Übergabe des Otto-Löwenstein-Preises/Bildrechte: BDH Bundesverband Rehabilitation