Rund 40 Expertinnen und Experten aus Vereinen und Verbänden der Selbsthilfe, aus Berufsverbänden und auch junge Menschen mit Behinderung wurden Ende Juni zu einem runden Tisch in BMG geladen. Auch Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen war anwesend.
Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (BMG) hatte zu einem Runden Tisch eingeladen, gemeinsam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) und dem Bundesfamilienministerium (BMFSFJ). Ziel ist es: „kurzfristig umsetzbare Maßnahmen zu identifizieren und entwickeln, Alltag und Lebenssituation der Familien, Kinder und jungen Menschen mit Behinderungen zu erleichtern“, so Sabine Dittmar, Staatssekretärin aus dem BMG. Dabei müsse aber „geltendes Recht“ Berücksichtigung finden.
Berufsverbände aus Pflege und Medizin, Gesundheitspolitiker-Politiker aller Parteien, aber vor allem Vereine aus der Selbsthilfe folgten der Einladung: rehaKIND und das Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Hilfsmittelversorgung konnten hier für die Gruppe der Kinder, Jugendlichen und für die jungen Erwachsenen mit Behinderungen sprechen.
Die problematische Aufteilung der Kostenträger und Zuständigkeiten durch die verschiedenen Säulen des Sozialgesetzbuches wurde erkannt, daher kamen alle drei Ministerien unter der Koordination des BMG zusammen.
Die Umsetzung eines „Aktionsplans 2024“ soll noch im Sommer/Frühherbst beendet sein:
Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg aus dem Arbeitsministerium nahm die Entbürokratisierung und bessere Teilhabe-Beratung durch die vorhandenen EUTB-Stellen, die Verzahnung verschiedener Leistungsträger, die Möglichkeiten finanzieller Unterstützung für Pflegende, um so auch dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, auf seine Agenda.
Heike Schmidt-Obkirchner aus dem Familienministerium verwies auf eine aktuelle Studie, die sehr genau, detailliert und alltagsbezogen die Unterstützungsbedarfe von Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen auflistet und Hinweise auf Inklusionshürden gibt. Es geht darum, eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe zu integrieren, Schnittstellen und vielfältige Zuständigkeiten zusammenzuführen, die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in diesen Feldern zeitnah zu forcieren. Insgesamt müsse die Ausrichtung auf Teilhabe in allen Lebensbereichen verstärkt werden.
Auch Jürgen Dusel forderte erneut ressort- und SGB-übergreifende Problemlösungen für die Familien und die jungen Menschen: Er lobte die geplanten Veränderungen in §33 SGB V zur Vereinfachung des Hilfsmittelversorgungsprozesses mit Verordnungen und Empfehlungen aus SPZ (Sozialpädiatrische Zentren) und MZEB (Med. Zentren für Erwachsene mit Behinderung). Dies wird mit dem GVSG-Entwurf, der dem Parlament zur Abstimmung vorliegt, realisiert werden.
In den SPZ könnten, wie in Jugendämtern auch, trägerübergreifend arbeitende „Verfahrens-Lotsen“ für die Eltern vor Ort sein, die die Kinder und Familienstrukturen seit Jahren kennen. Eine Mutter brauchte es auf den Punkt: „Wir muten in unserem Rechtssystem keiner anderen Gruppe von Menschen einen derartigen Dschungel von Zuständigkeiten zu.“
Minister Lauterbach bekräftigte dies mit der Bemerkung, dass dafür die Vergütung nichtärztlicher Leistungen, vor allem auch der Sozialberatung in SPZ geregelt werden muss. Er stellte eine baldige Erweiterung der Altersgrenze für-SPZ Behandlungen auf 21 Jahre in Aussicht, auch um die begleitete Transition für junge Menschen mit Behinderung in die Erwachsenenmedizin zu erleichtern.
Teilhabeorientierte Bedarfsplanung für Kinder
Ein Kernpunkt und Lösungsvorschlag vieler Verbände war eine teilhabeorientierte Bedarfsplanung für Kinder (ist bereits in SGB IX verankert, aber eher für Erwachsene im Arbeitsleben):
Diese soll in regelmäßigen Abständen an einem „Runden Tisch“ mit allen Beteiligten aus Medizin, Therapie und Versorgung, den Familien und auch Kostenträgern und MD stattfinden. Wenn hier gemeinsam „Behandlungskorridore“ entwickelt werden, könnten die Einzelgenehmigungen entfallen und Pflegegradeinstufung, medizinische und pädagogische Versorgung, Organisation von Inklusionshelfern et cetera wären ohne bürokratischen Aufwand für Eltern und die professionellen Versorger realisierbar.
Solche „Round Tables“ sollen für alle Berufsgruppen pauschal honoriert werden und müssten auch nur alle drei bis vier Jahre stattfinden. Eventuell befürchtete Mehrkosten durch fest vereinbarte Kostenübernahmen werden sich durch bürokratische Entlastung aller Beteiligten definitv refinanzieren. Dies wurde auch von der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie bestätigt. Aktuell fehlt durch diese aufgeblähten Prozesse „echte und notwendige Zeit“ für die jungen Patienten. Der Fachkräftemangel in den SPZ und knappe Ressourcen in Institutionen und Behörden machen die zigfache Beantragung, Bearbeitung von Widersprüchen und erneute Begründungen unmöglich.
Die gemeinsam und von allen Beteiligten getragene teilhabeorientierte Bedarfsplanung würde diese zusätzlichen Überprüfungs- und Bearbeitungszeiten überflüssig machen und vorhandene Ressourcen könnten zukünftig zielführender eingesetzt werden.
Dies wurde als Vorschlag für das kommende Entbürokratisierungsgesetz im Gesundheitswesen von Minister Lauterbauch aufgenommen.
„Folgeverordnungen“ für regelmäßig benötigte Verbrauchsmaterialien aus Homecare und Wundversorgung ist ein Bürokratiemonster
rehaKIND liegen Auswertungen für eine jugendliche Patientin mit Beatmungsbedarf vor, die jährlich bis zu 220 Einzelverordnungen bei ihrer Krankenkasse vorlegen muss, um Schläuche, Kanülen, Inkontinenzmaterialien und andere Verbrauchsmaterialien zu bekommen. Dies ist entwürdigend, zumal ihre Grunderkrankung und Behinderung lebenslang unveränderlich bleibt beziehungsweise sich eher verschlechtern wird. Dies bedeutet, dass eine „Dauerverordnung“ für mindestens ein Jahr oder „auf immer“ ausreichen würde.
Aktive aus Elterngruppen und Jugendliche schilderten eindrücklich, dass sie sich immer wieder als Bittsteller für Dinge, die ihnen zustehen, empfinden. Ein elfjähriger Rollinutzer fasste das gesamtgesellschaftliche Dilemma zusammen: „Meine Mama kann nicht ausreichend und in Ruhe arbeiten gehen, weil sie mich pflegen muss. Deshalb ist sie oft sehr angestrengt und nervös.“
Vorschlag aus der Praxis hier wäre: Bei Kindern mit Pflegegrad 4 und 5 werden sicherlich alle verordneten und beantragten Hilfsmittel und Therapien benötigt. Niemand ist daran interessiert, Hilfsmittel zu horten, zumal sie ja ohnehin im Eigentum der Krankenkasse bleiben. Wenn diese unbürokratisch zu verordnen wären, könnten enorm viele Ressourcen in Medizin, Therapie, bei Kostenträgern und vor allem den Familien anderweitig positiv genutzt werden. Statt vorab könnte der Medizinische Dienst zum Beispiel nach einem Nutzungszeitraum von einem Jahr stichprobenartig überprüfen, ob die Hilfsmittel und Therapien den angestrebten Nutzen für Versorgungs- und Alltagsziele erreicht haben.
Daraus entnahm der Minister dringende Impulse, Lohnersatzleistungen für Pflegende Angehörige zu planen, denn 80 Prozent der Pflegebedarfe in allen Altersgruppen unserer Gesellschaft werden unentgeltlich von Angehörigen abgedeckt. Eine Umwidmungsmöglichkeit von Sachleistungen in Pflegegeld ist bereits in Arbeit.
Eine Abiturientin, die wegen einer fortschreitenden Muskelerkrankung mit Beatmung lebt, schilderte eindrücklich die furchtbaren Folgen der Richtlinie für Außerklinische Intensivpflege (AKI-RL) für eine zahlenmäßig sehr kleine Patienten-Gruppe und ihre An- und Zugehörigen. Hier muss dringend und sehr schnell nachjustiert werden, dies bekräftigte der Minister.
Verkürzte Verfahren und Fristen
Weitere und positiv aufgenommene Anliegen waren die Ausweitung der Kurzzeitpflegemöglichkeiten, tags und nachts, hier sollten auch Kliniken mit eingebunden werden. Das Aktionsbündnis konnte diverse Punkte vorbringen, die der Petitionsausschuss dem Bundestag aufgegeben hat und wird diese auch schriftlich einreichen: Ganz wichtig sind verbindliche und „sanktionsbewehrte“ Fristen für Widersprüche. Zurzeit werden so, neben „Zuständigkeitsgerangel“ zwischen Kostenträgern, auch die Verfahren zur Genehmigung von Hilfsmitteln, Therapien, Pflege und Betreuungsleistungen unendlich in die Länge gezogen. Bei Kindern und Jugendlichen schließen sich häufig „Entwicklungsfenster“ unwiederbringlich, eine Versorgungsstufe wird übersprungen und nicht aufholbare Defizite oder Folgeschäden manifestiert. Wir schlagen eine Frist von sechs bis maximal neun Wochen für die abschließende Bearbeitung eines Widerspruchs beim Kostenträger vor.
Transparenz über die Qualifikation von MD-Gutachtern und auch über die Vertragsinhalte, Kennzahlen zur Antragsstellung, – Genehmigung und -Ablehnung sind ebenfalls Forderungen aus der Petition. Ebenso wie eine Qualifizierung der Kostententräger-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, welche über Anträge entscheiden.
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