Schnell einen Schluck trinken, das Salz reichen oder die Schuhe zubinden – solch alltägliche Bewegungen werden für Menschen mit eingeschränkter Arm- und Handfunktion zu großen Herausforderungen. Zu diesen Funktionseinschränkungen der Extremitäten kann es beispielsweise nach einem Schlaganfall kommen. Im Schnitt erleiden mehr als 260.000 Menschen jährlich in Deutschland einen Hirninfarkt. Jetzt sind die ersten drei bis sechs Monate besonders entscheidend, um die motorischen Funktionen wieder zu aktivieren. Für viele Patientinnen und Patienten ist es schwer, Bewegungen neu zu erlernen, wenn sie immer wieder negatives Feedback bekommen. Eine etablierte Methode auf diesem Gebiet ist die Spiegeltherapie, mit der positive Eindrücke erzeugt werden. Ergotherapeutin Manuela Conrad, die mit dem Verfahren im PhysioGym der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik arbeitet, erklärt: „Die Spiegeltherapie macht sich im Grunde eine optische Täuschung zu Nutze. Wir platzieren einen Spiegel so, dass der gesunde Arm beziehungsweise die gesunde Hand gespiegelt werden. Die betroffene Seite ist hinter dem Spiegel und für die Patientin oder den Patienten nicht sichtbar.“ Bei Bewegung des gesunden Armes entsteht dann durch die Spiegelung der Eindruck, der gelähmte Arm bewege sich mit. Dieses Erleben aktiviert die entsprechenden Hirnareale und verlorengegangene Bewegungsmuster und Funktionen werden trainiert. „Wenn das Gehirn sich quasi daran gewöhnt hat, dass ein Arm oder eine Hand nicht richtig funktionieren, wollen wir es mit der Spiegeltherapie wieder umgewöhnen und eine Verbindung zur betroffenen Seite herstellen. Wir nutzen damit die sogenannte Neuroplastizität des Gehirns, also seine Fähigkeit, Zellen neu zu organisieren.“ Nach einer Testphase im Herbst letzten Jahres nutzen die Therapeuten des PhysioGyms in der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik nun ein neues Gerät für die Spiegeltherapie, das Therapiesystem IVS3. Der Spiegeltherapietisch, für den rund 45.000 Euro investiert wurden, verbessert die optische Täuschung dank modernster Technik. Das wiederum stärkt die sogenannte Compliance der Patientinnen und Patienten, also die Bereitschaft, aktiv an der Therapie mitzuwirken. Denn dass sich die Betroffenen wirklich auf die Illusion einlassen können, ist eine wesentliche Voraussetzung. „Erst dann haben viele die ersten Erfolgserlebnisse und sind auch motiviert, weiter zu üben. Sie erfahren mit dem Gerät ein positives Körpergefühl“, so Manuela Conrad. Der Spiegeltherapietisch ersetzt das Bild der eingeschränkten Extremität durch ein authentisches positives Bild der Bewegung. „Bei der herkömmlichen Spiegeltherapie müssen die Patientinnen und Patienten zum Teil leicht verdreht sitzen, um eine gute Spiegelung des gesunden Körperteils zu erreichen. Der Spiegel ist in der Körpermitte platziert und für viele als Fremdkörper wahrnehmbar.“ Die Patientinnen und Patienten seien leicht ablenkbar und müssten in einem ruhigen Raum störungsfrei üben können. Im Gegensatz dazu sitzen sie nun frontal vor dem Spiegeltherapietisch IVS3. Beide Arme liegen in natürlicher Haltung auf dem Tisch ab. Die Bewegungen des gesunden Arms werden in der ersten Therapiesitzung aufgezeichnet und über den Bildschirm auf die eingeschränkte Extremität projiziert. „Die Illusion ist sofort nahezu perfekt und die allermeisten können sich direkt sehr gut darauf einlassen“, berichtet die Therapeutin. Oftmals seien bereits in der ersten Therapiesitzung Fortschritte sichtbar. Eine Übungseinheit dauere circa 15 Minuten. „Das hört sich erst einmal nicht lange an. Für die Patientinnen und Patienten ist dies aber kognitiv anstrengend und daher ausreichend.“
Der neue Spiegeltherapietisch bietet zudem den Vorteil, dass er auch in frühen Krankheitsstadien angewendet werden kann, wie Ulrich Häussermann, Leiter des Therapiezentrums beschreibt: „Bei 80 bis 90 Prozent der Betroffenen ist die Therapie mit dem authentischen Abbild möglich, auch wenn Begleiterkrankungen wie kognitive Störungen, Aufmerksamkeitsdefizite, Lernbehinderungen oder Aphasien vorliegen. Somit können wir einem großen Spektrum an Erkrankten stationär und ambulant früh helfen.“ „In frühen Erkrankungsstadien sind die Betroffenen oftmals noch sehr mit dem Ereignis, zum beispiel dem Schlaganfall, beschäftigt und können sich schwer auf die Illusion mit einem Spiegel einlassen. Der Spiegeltherapietisch hingegen lässt sie fast vergessen, dass wir hier mit einem erzeugten Bild arbeiten“, ergänzt Manuela Conrad. Therapieziele mit dem Therapiesystem IVS3 sind: Verbesserung der Motorik, Verringerung von Spastiken, Behandlung von Hemineglect und die Reduktion von zentralen Schmerzen. Neben Funktionseinschränkungen nach Schlaganfall und Hirnverletzungen kann die Therapie auch bei zerebralen Lähmungen, Handverletzungen, Immobilisationen, Amputationen (Phantomschmerzen) und dem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS), auch Morbus Sudeck genannt, angewendet werden. Sie ist damit sowohl bei neurologischen wie auch bei orthopädischen Erkrankungen möglich.