Tobias Bernasconi: Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger Behinderung. Ernst Reinhardt Verlag, München 2024. ISBN 978-3-8252-6215-0
Oft werden die Angehörigen von schwer hirnverletzten Menschen mit der Diagnose GEISTIGE BEHINDERUNG konfrontiert. Aus diesem Grund ist es sinnvoll sich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Hierfür ist das Buch von Tobias Bernasconi eine hilfreiche Lektüre. Es gibt Auskunft darüber, wie Menschen mit einer geistigen Behinderung leben, lernen und arbeiten.
Aufbau des Buches:
Grundfragen und Positionen
Begriff und Personenkreis
Historische Determinanten
Leitideen und -prinzipien
Entwicklungsbedingungen und Entwicklungsbereiche
Zur Situation der Familien von Menschen mit geistiger Behinderung
Lebenssituation und Handlungsfelder/Institutionen
Tobias Bernasconi, Professor für Pädagogik und Rehabilitation bei Menschen mit geistiger und komplexer Behinderung an der Universität zu Köln, will in dieser Publikation sowohl die politische als auch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung reflektieren. Verantwortlich für dieses Unternehmen ist der tiefgreifende Veränderungsprozess, dessen Ziel die Inklusion von Menschen mit einer geistigen Behinderung bedeutet.
Zunächst geht der Autor der Frage nach, was geistige Behinderung ist. Bei der Beantwortung wird auf die Geschichte der Einführung dieses Terminus‘ zurückgegriffen. Alles in Allem „sind viele dieser Begriffe grundsätzlich defizitorientiert und drücken an sich bereits […] etwas Negatives aus, das sich auf die intellektuelle Unzulänglichkeit bezieht und somit zusätzlich gesellschaftlich stigmatisiert ist“ (S. 9). Bei dem Terminus Geistige Behinderung handelt es sich um einen sehr unspezifischen Begriff. Als Dilemma beurteilt Bernasconi, dass das Phänomen Behinderung – und hier im Speziellen die geistige Behinderung – aus der Außenperspektive und von Sonder- bzw. Heilpädagogen, die nicht über eine Behinderung verfügen, beurteilt wird. Nicht sinnvoll erscheint die Formulierung einer statischen Definition für die geistige Behinderung.
Tobias Bernasconi versteht geistige Behinderung relational. Es spielen demgemäß „stets mehrere Ebenen, Prozesse und Bedingungen im Verhältnis zwischen individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten bei der Manifestation von geistiger Behinderung eine Rolle“ (S. 11).
Für die anthropologischen Aspekte bei Vorliegen einer geistigen Behinderung stößt die Frage nach dem rätselhaften und unvollständig erkennbaren Humanen auf Interesse, weil „sie Menschen aufgrund ihrer gegebenen Möglichkeiten immer zu Entwicklung und sinnhafter Tätigkeit ansieht“ (S. 14).
Bezüglich der sonder- und heilpädagogischen ethischen Prämissen befasst sich der Verfasser mit dem Lebens- und Bildungsrecht und der Pränataldiagnostik.
Die wissenschaftliche Verortung erfolgt über:
den Konstruktivismus und die Systemtheorie
die kulturhistorische Schule – und die ist für Menschen, die mit den Folgen einer schweren Hirnverletzung leben, bedeutsam -, weil das menschliche Gehirn, in sozialer Hinsicht, zur Kompensation fähig ist. Im pädagogischen Umgang mit hirnverletzten Menschen steht die soziale Situation im Vordergrund. Hierbei handelt es sich um die Situation, in der der Mensch lebt. Hier sind die Entwicklungsmöglichkeiten entscheidend;
die Phänomenologie.
Bernasconi empfiehlt die Kenntnis von aktuellen Definitionen und Begriffen. Diese Kenntnis ist im Umgang mit Institutionen und Behörden, um z.B. Leistungsansprüche geltend zu machen, von Bedeutung. Vielfach wird hier eine andere Sprache gesprochen, was sich auf berechtigte Leistungsansprüche dann oft, wenn diese besondere Sprache nicht gesprochen wird, negativ auswirkt. Des Pudels Kern liegt somit in der korrekten Verwendung der Begrifflichkeiten.
Es ist festzustellen, „dass die Deutungshoheit über das, was ‚Geistige Behinderung‘ ausmacht, unabhängig von der zugrunde liegenden Sichtweise oft nicht bei den betroffenen Personen selbst liegt“ (S. 26; vgl. auch Rensinghoff 2008).
Den Begriffen und Begrifflichkeiten wird sich gewidmet über die:
medizinisch-psychologische Sichtweise – „aus medizinischer Sicht „wird geistige Behinderung zunächst als Entwicklungsverzögerung der kognitiven Verarbeitungsfähigkeiten und adaptiven Kompetenzen gesehen“ (S. 28) und für die psychologische Perspektive wird sich bei der geistigen Behinderung hauptsächlich am Intelligenzquotienten orientiert;
sozialwissenschaftliche Sichtweise – in der Hauptsache wird geistige Behinderung gesellschaftlich verstanden als:
„Arbeitskraft minderer Güte,
Resultat reduktionistischer bzw. vorenthaltener Bildung,
Resultat einer veränderten sozialen Entwicklungssituation“ (S. 39);
pädagogische Sichtweise, die hauptsächlich die Lern- und Bildungsmöglichkeiten von Menschen mit geistiger Behinderung unter Einbezug der Gestaltung der Lebens- und Lernumwelt im Auge hat:
Menschen mit komplexer Behinderung – und diese lässt eine tiefgreifende Beeinträchtigung und hohe soziale Abhängigkeit erkennen;
Disability Studies, die „das Verhältnis von Normalität und Abweichung und deren Funktion für Kultur und Gesellschaft“ (S. 46) untersuchen;
bio-psycho-soziale Sichtweise, die versucht, „die unterschiedlichen Aspekte, die bei der Definition und Beschreibung von Behinderung wirken, in ihrem Zusammenspiel genauer zu beschreiben“ (S. 48).
Der Blick in die Geschichte erfolgt über „eine eher traditionelle Geschichtsschreibung […], bei der über die verschiedenen Epochen hinweg skizzenhaft die gesellschaftliche Position und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten und Grenzen mit Blick auf die Teilhabe an Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben werden“ (S. 55). Betrachtet werden:
Frühgeschichte und Mittelalter;
Aufklärung;
Gründung von Anstalten und erste Entwicklungen einer systematischen Heilpädagogik;
Gründung von Hilfsschulen;
Neuzeit;
Nationalsozialismus;
die Zeit nach 1945.
Zu den Leitideen und -prinzipien führt Bernasconi an:
Normalisierung;
Selbstbestimmung;
Empowerment;
Integration und Inklusion;
Teilhabe.
Als weitere Aspekte bezeichnet der Autor diejenigen Aspekte, „die nicht im klassischen Sinne als übergreifende Leitprinzipien“ (S. 88) aufzufassen sind. Hierbei handelt es sich um eine Auswahl, als da wären:
Fürsorge;
Assistenz;
Pflege;
Sozialraumorientierung;
Lebensqualität.
Bernasconi führt aus, dass es sich bei der Entwicklung um das Ergebnis eines komplexen Prozesses handelt, in dem, im Sinne des bio-psycho-sozialen Verständnisses, „individuelle sowie umweltbezogene Faktoren eine Rolle spielen und sich gegenseitig beeinflussen“ (S. 105). Es wird sich mit ausgewählten Entwicklungsbereichen befasst, die auch nach einer Hirnverletzung hohe Relevanz haben. Hierbei handelt es sich um:
Kognition;
adaptive Verhaltens/Handlungskompetenz;
Kommunikation und Interaktion.
Im Zusammenhang mit der Diagnose Geistige Behinderung ist es notwendig die soziale Situation zu betrachten. Sowohl die Geburt eines Kindes mit einer geistigen Behinderung, als auch die beispielsweise durch ein hirntraumatisches Ereignis erworbene geistige Behinderung bringt das zwischenmenschliche Gefüge durcheinander. „Die Diagnose ‚Geistige Behinderung‘ verändert die soziale Situation des Kindes und der Familie“ (S. 125). Das Resultat zeigt sich in Stress, Stigmatisierung, Diskriminierung bzw. struktureller Gewalt.
Das letzte Kapitel befasst sich überblicksartig mit den heilpädagogischen Handlungsfeldern. Der Blick hierbei reicht über die gesamte Lebensspanne und endet nicht mit der Schulzeit. Letzteres ist ein Kritikpunkt, mit dem die Sonderpädagogik konfrontiert wird, da sie doch sehr schullastig ist. Neben Vorschul- und Schulalter richtet sich der Blick auf das Erwachsenenalter, in dem die Berufsausbildung und -tätigkeit einen entscheidenden Raum einnimmt. Genauso wird die Gerontologie besprochen, da die Lebenserwartung von Menschen mit einer geistigen Behinderung auch hier hineinreicht.
Alles in Allem hat Tobias Bernasconi eine hervorragende Einführung in die Pädagogik und Rehabilitation im Falle einer geistigen Behinderung verfasst.
Literatur:
Rensinghoff, Carsten: Wie man so redet. In: mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen 0.J.(Ausgabe 2/2008) URL: https://mondkalb-zeitung.de/wie-man-so-redet/ [Download: 30.10.2024].