Ein Großteil der jetzt Intensivmedizin-Bedürftigen, schwererkrankten COVID-19 Patienten benötigt nach der Akutbehandlung einen der knappen Plätze in der neurologische Frührehabilitation, meist mit intensivmedizinischen Vorhaltungen. „Neue Perspektiven durch COVID-19“ und „Früh- und Beatmungsrehabilitation“ sind aktuelle Themenschwerpunkte bei der 8. Gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation e. V. (DGNR) und der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und klinische Neurorehabilitation e. V. (DGNKN) vom 10. bis 12. Dezember 2020.
Kongresspräsident Professor Dr. med. Stefan Knecht gibt erste Einblicke in Tagungs-Highlights und aktuelle Entwicklungen der Rehabilitationsmedizin:
Mit dem diesjährigen Motto „Neurorehabilitation im demographischen Wandel“ legt der Kongress einen Fokus auf die immer älter werdende Bevölkerung. Welche neuen Herausforderungen bedeutet es für Ihr Fachgebiet, immer mehr alte und kranke Patienten zu behandeln? Inwiefern ist dies ein wichtiges Thema für die nächsten Jahre? Eine hochbrisante Frage: Wie kann Neurorehabilitation in den nächsten Jahrzehnten unter den Bedingungen des demographischen Wandels anders und effizienter werden und dabei human bleiben?
Professor Dr. Stefan Knecht: Die Alterung unserer Bevölkerung begleitet uns ja schon eine ganze Weile und sie wird sich weiter fortsetzen. Zusätzlich werden in den nächsten Jahren aber die Erwerbspersonen, also die Menschen zwischen 25 und 67, wegbrechen. Denn der ausladende Teil der Bevölkerungspyramide bewegt sich über die Pensionsgrenze und danach folgt nur noch eine schmale Taille. Die Erwerbsgruppe wird dadurch um 8 Millionen Menschen kleiner über die nächsten 20 Jahre – plus oder minus einige 100.000 Zugewanderte. Dadurch werden in den nächsten Jahren weniger Berufstätige mehr Bedürftige versorgen müssen. Und das wird sich besonders in so personalkritischen Bereichen wie Neuroreha niederschlagen. Die große Frage ist, wie das gehen soll.
„Neue Perspektiven durch COVID-19“ und „Früh- und Beatmungsrehabilitation“ sind aktuelle Schwerpunktthemen, zu denen Rehabilitations-Experten ihre Erfahrungen und Erkenntnisse vortragen. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Neurorehabilitation?
Wir sehen in der aktuellen Situation alles von Klinikräumungen hin bis Kliniküberfüllungen. Wobei die Räumungen im Wesentlichen durch Quarantänisierung von Mitarbeitern verursacht werden. Wenn Sie so wollen, ist das die verkürzte oder komprimierte Form des demographischen Wandels, nämlich kränkere Patienten und weniger Mitarbeiter. Neben der jetzigen Unruhe wird bei COVID-19 meiner Einschätzung nach das dicke Ende aber noch kommen. Ein Großteil der jetzt Intensivmedizin-bedürftigen, schwererkrankten COVID-19 Patienten wird nach der Akutbehandlung eine neurologische Frührehabilitation, meist mit intensivmedizinischen Vorhaltungen benötigen. Diese Plätze sind knapp – leider besonders in unserem eigenen Bundesland, in NRW. Das Verständnis für dieses Problem existiert bisher noch nicht in allen für dieses Thema zuständigen Landesregierungen.
Das Kongressprogramm ist wieder vielfältig. Welche Fortschritte, neuen Rehabilitationsstrategien und Trends in der Neurorehabilitation werden vorgestellt, um Menschen mit Funktionsbeeinträchtigungen jetzt und auch in Zukunft bestmöglich zu unterstützen?
Wenn wir mit weniger Menschen mehr Bedürftige werden versorgen müssen, sollte man sich zunächst umblicken. Dazu gibt es ein Symposion zum Vergleich nationaler Lösungen. Wichtig bei dieser Frage sind auch die Veranstaltungen zum Thema Digitalisierung, virtuelle Therapien und Big Data. Können wir damit mit weniger Mitarbeitern mehr Patienten helfen? Und wenn wir von Automatisierung sprechen, müssen wir fragen, was da automatisiert werden soll. Deswegen haben wir bewusst ein Symposion über die Bedeutung der therapeutischen Beziehung in der Therapie aufgesetzt.“
Welche Schwerpunktthemen liegen Ihnen besonders am Herzen? Und auf welche Tagungs-Highlights sind Sie besonders gespannt?
Ein Highlight wird die Plenarveranstaltung zur Neurorehabilitation im demographischen Wandel am Abend des ersten Tages sein mit Prof. Reinhard Busse und Hartmut Reiners aus Berlin. Herr Busse hat als Gesundheitsökonom hier dezidierte und durchaus kontrovers rezeptierte Vorstellungen. Ich erwarte, dass wir uns hier auf unbequemen Analysen einstellen können. Ich bin aber auch gespannt auf die Plenarveranstaltung am zweiten Tag, die wir unter den Titel „To be or not to be?“ gestellt haben, und in der Prof. Gernot Marx als führender Akut-Intensivmediziner die Perspektiven seines Feldes skizziert und Prof. Stefan Lorenzl das schwierige Thema der palliativen Therapiezieländerung beleuchtet.
Ein weiterer aktueller Schwerpunkt sind Bruchlinien derzeitiger Versorgungsstrukturen. Fehlende Plätze in der Neurorehabilitation sind ein brennendes Thema. Welche Möglichkeiten hat die Fachgesellschaft, darauf Einfluss zu nehmen?
Neuroreha hat nur noch wenig mit Kur und immer mehr mit Krankenhausmedizin zu tun. Das ist aber noch nicht hinreichend angekommen in der Sozialgesetzgebung, bei Krankenkassen und in der Politik. Die Frage ist, wie teuer die resultierende Fehlversorgung noch werden soll, bevor die Akteure die notwendige Transformation des Systems angehen. Dass Neuroreha Krankenhausmedizin umfasst, zeigt sich am eindrücklichsten in der Neurofrühreha. Die meisten Bundesländer haben hier zum Glück schon reagiert und Frühreha- Abteilungen in den Neurorehazentren zu Krankenhausabteilungen umgewandelt. Nur die aktuelle Landesregierung in NRW scheint zu glauben, man könne den umgekehrten Weg gehen, indem man neurologische Kliniken in Regelkrankenhäusern mit Neurofrühreha beauftragt. An der Wirksamkeit dieses Versuches gibt es große Zweifel, weil diese Abteilungen weder rehabilitative Expertise noch intensivmedizinische Einbettung noch rehabilitative Weiterversorgungsmöglichkeiten haben, sondern im Zweifel die Patienten zwischen Kliniken hin und her verlegt werden müssen. Ich befürchte große Probleme für die Neurofrühreha von intensivmedizinbedürftigen Schwerstkranken und eine weitere Zunahme von Beatmungs-WG- Patienten in NRW. Vor allem aber offenbart sich in diesem Planungsansatz die Illusion, man könne krankenhausmedizinische Versorgung aus der Neurorehabilitation heraushalten und die schöne alte Kur-Welt wiederherstellen. Ältere und kränkere Patienten in der Neuroreha bedeuten aber, dass diese Kur-Zeiten vorbei sind. Mittlerweile müssen wir bei 40% aller Patienten in der neurologischen Anschlussrehabilitation wenigstens einmal akut kranken- hausmedizinisch aktiv werden. Die Frage ist also: Wie bekommen wir mehr Krankenhausversorgung in die Rehakliniken? Am Ende des Tages wird das meines Erachtens nur funktionieren, wenn die gesamte Neurorehabilitation in die Krankenhausplanung überführt wird.
Aber, Sie fragten nach der Rolle der Fachgesellschaften und wir reden auch im Vorfeld der DGNR/DGNKN-Jahrestagung. Die haben natürlich weit mehr als politische Aufgaben. Es geht um Ansätze, Inhalte und neue Möglichkeiten – zum Glück. Aber für unsere Patienten und für unser Fach sollten wir uns auch im Kontext größerer gesellschaftlicher Entwicklungen sehen und positionieren.
Die oft langwierigen Beantragungsverfahren nach klinischer Akutbehandlung stehen schon länger in der Diskussion, weil sie eine unmittelbar anschließende professionelle Rehabilitation erst einmal blockieren – zum Nachteil der Patienten. Welche Erfahrungen werden aktuell gemacht?
Nehmen Sie das Beispiel Genehmigungsvorbehalt für Neurorehabilitation: Die heute übliche formalistisch umständliche Prüfung eines Antrages auf Kur ist nachvollziehbar, wenn ein Patient zu Hause ist, stabil und wenig betroffen. Wenn Patienten nach einem Schlaganfall im Krankenhaus aber stark eingeschränkt und durch Immobilität komplikationsgefährdet sind, grenzt jede Verzögerung einer Neurorehabilitation an fahrlässige Körperverletzung. Die Aussetzung des Genehmigungsvorbehaltes für neurologische Anschlussrehabilitation während der ersten COVID-Welle hat uns gezeigt, dass das Bewilligungsverfahren völlig verzichtbar ist. Die Versorgung hat bestens geklappt. Patienten waren im Mittel 6 Tage früher in der Neuroreha und die Rehadauer war nicht verlängert. Stattdessen sind durch Abbau der Wartezeiten auf einen Schlag 5000 Krankenhausbetten für die Versorgung anderer Patienten frei geworden.