„Ich hab überlebt, jetzt mach ich Party!“

Beim Online-Kongress „Aphasie 4.2″ berichten Betroffene offen über ihr Leben.
Einst hatten sie eine Vierzigstundenwoche gehabt. Waren aktiv gewesen in einem anspruchsvollen Job. Hatten sich um Kinder, Enkelkinder oder pflegebedürftige Angehörige gekümmert. Sie standen voll im Leben. Dann kam es zum Schlaganfall und zur Aphasie. „Und plötzlich steht man völlig leer da“, schilderte Mirjam Wechsung beim Online-Kongress „Aphasie 4.2″ des Zentrums für Aphasie & Schlaganfall Unterfranken, an dem vom 25. bis 27. März 500 Betroffene und Profis aus ganz Deutschland teilnahmen.
Eine Aphasie wird als ein radikaler Wandel des eigenen Lebens erfahren. Davon erzählten Aphasiker während des Online-Kongresses offen und authentisch in zwei Foren. Bei Mirjam Wechsung liegt dieses Ereignis schon einige Jahre zurück: „2011 erlitt ich eine Gehirnblutung.“ Ihr Ex-Mann hatte sich zunächst um sie gekümmert: „Doch irgendwann war er mit mir und den beiden Kindern überfordert.“ 2017 kam es zur Scheidung. Nie hätte Mirjam Wechsung gedacht, dass sie noch einmal heiraten würde. Doch ein Jahr später lernte sie bei einer Busreise für Aphasiker ihren Mann Tom kennen. Die beiden verliebten sich ineinander. Vor zehn Monaten wurde Hochzeit gefeiert.
„Beziehung“ ist ein zentrales Thema für Aphasiker. Wie ist es möglich, trotz der sprachlichen Behinderung einen Partner zu finden? Kann eine Beziehung zwischen einem Aphasiker und einem sprachgesunden Menschen gelingen? Über diese Fragen diskutierten die Aphasiker Mirjam und Thomas Wechsung, Barbara Klemt und Jörn Asmussen. Matthias Beck und Marina Fraas, beide ebenfalls von Aphasie betroffen, moderierten.
Auch beim zweiten Forum wurde die Möglichkeit, am Chat teilzunehmen, von den Besuchern des Online-Kongresses rege genutzt. Diesmal ging es unter der Moderation des Aachener Aphasie-Experten Walter Huber um die Frage, wie die Selbsthilfe für Menschen mit Aphasie zukunftsfähig fortentwickelt werden könnte. „Wir müssen einen Weg finden, Selbsthilfe hip zu machen“, forderte Matthias Beck. Natürlich sei es ungemein tragisch, die Sprache zu verlieren: „Dennoch dürfen Selbsthilfegruppen nicht zu Trauergruppen werden.“ Gerade Gruppen für jüngere Menschen sollten von einem optimistischen Geist getragen werden: „Ich hab überlebt, jetzt mach ich Party!“
Oft hält ein dicht gedrängter Terminplan davon ab, sich verantwortlich in die Selbsthilfe einzubringen. Schließlich bedeutet es viel Arbeit, eine Selbsthilfegruppe zu leiten. Rein ehrenamtlich wird dies auf lange Sicht nicht mehr klappen, so das Fazit von Walter Huber: „Wir müssen Funktionsstellen in der Selbsthilfe schaffen.“ Heino Gövert vom Zentrum für Aphasie & Schlaganfall würde sich wünschen, dass mehr Geld in die Selbsthilfe fließt. Ein Auslaufmodell, so der Sozialarbeiter, sei die Selbsthilfe jedoch auf keinen Fall. Dies bestätigte Norina Lauer, Professorin für Logopädie an der Ostbayerischen Technischen Hochschule in Regensburg. In Zeiten von E-Learning und Online-Konferenzen ist die Selbsthilfe gefordert, sich digital aufstellen. „Auch wir Aphasiker kommen nicht um den Computer herum“, betonte Thomas Loch, Vorsitzender des Bayerischen Landesverbands für die Rehabilitation der Aphasiker. Matthias Beck sieht die technische Entwicklung der letzten zwei Jahre durchaus positiv, wobei noch immer nicht alle jungen Leute angesprochen würden: „Die momentanen Selbsthilfemodelle sind jungen Aphasikern einfach zu träge.“ Sie wünschten sich noch mehr Flexibilität: „Also, dass man sich einfach so online treffen und was zusammen unternehmen kann.“ Ohne feste Strukturen.
Norina Lauer berichtete im Forum schließlich über ein neues Forschungsprojekt zur Peer-to-Peer-Unterstützung, das im vergangenen Jahr startete und noch bis 2023 läuft. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie digitale Vernetzung bei Aphasie dazu beitragen kann, die Lebensqualität zu steigern. Im Rahmen des Projekts soll unter Einbezug der Zielgruppe eine App namens „PeerPAL“ entstehen.
Eine Aphasie kann sich bessern, doch bis das geschieht, dauert oft eine ganze Weile. Angehörige müssen eine Menge Geduld aufbringen, kann die Kommunikation doch über viele Monate stark eingeschränkt sein. Davon erzählten Partnerinnen und Partner von Menschen mit Aphasie in einem Workshop, den Beate Hechtle-Frieß vom Zentrum für Aphasie & Schlaganfall moderierte. Die Aphasie zwingt auch Angehörige in eine Lebensform hinein, die sie nicht gewählt haben. „Das ganze Lebensmodell fällt in sich zusammen, wenn man realisiert, dass das, was man gerade erlebt, kein vorübergehender Zustand ist, sondern dass es niemals mehr so sein wird wie zuvor“, berichtete eine 56-jährige Angehörige. Lange habe sie versucht, den Schmerz über das Verlorene mit sich selbst auszumachen: „Im Nachhinein glaube ich, dass dies falsch war.“ Man könne nicht immer so tun, als sei man die Starke: „Ich hätte öfter mit meinem Mann weinen sollen.“
Durch die Aphasie sind auch Interessen plötzlich nicht mehr identisch. „Bei mir gibt es ein Bedürfnis nach geselligen Abenden, das ich nun mit Freundinnen ausleben muss, da mein Mann, der Gesprächen in einer Gruppe nicht mehr folgen kann, es ablehnt, mit vielen Menschen am Tisch zusammenzusitzen“, schilderte die Frau. Es sei ein schwerer Prozess, sich abzunabeln, ergänzte eine 59-jährige Angehörige, deren Mann vor über 14 Jahren einen Schlaganfall mit Halbseitenlähmung und Aphasie erlitten hatte. Inzwischen nehme sie sich die Freiheit, Dinge in ihrer Freizeit alleine zu tun: „Zum Beispiel am Wochenende im Wald spazieren zu gehen.“

www.aphasie-unterfranken.de

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